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Die romantische Liebe hat KonjunkturEhe und auf Dauer angelegte Partnerschaft mögen in der Krise sein. Doch romantische Liebe und Verliebtheit haben Konjunktur, bemerken Soziologen und Psychologen. Genannt werden als Gründe für beide Phänomene: zunehmende Individualisierung, hoher Stellenwert von Selbstverwirklichung, größere gesellschaftliche Freizügigkeit, Tempo und Kälte der globalisierten Ökonomie, Abbau traditioneller, dauernde Bindung verlangender Konventionen. «Die Verliebtheit ist die Revolution der Seele gegen die Diktatur der Gewohnheit und Mittelmäßigkeit», schreibt der Psychoanalytiker Micha Hilgers (Aachen) in seinem neuen Buch, «Leidenschaft, Lust und Liebe». Revolutionen bringen Turbulenzen mit sich - für alle Seiten. Und sie können leicht außer Kontrolle geraten. Das zeigt sich auch bei den immer neuen Verliebtheiten der im Trend liegenden «seriellen Monogamie» - ein Partner zur Zeit, doch mehrere hintereinander. Unter kürzlich veröffentlichten Fallbeispielen finden sich geradezu bühnenreife Verhaltensweisen tragikomischer Irrationalität mit manchmal desaströsen Folgen. Zitiert wird in diesem Kontext der Münchner Soziologieprofessor Ulrich Beck mit der Feststellung «Wir leben im Zeitalter des real existierenden Schlagertextes. Die Romantik hat gesiegt, die Therapeuten kassieren.» Die Psychiaterin Donatella Marazziti von der Universität Pisa fand in einer Untersuchung mit 20 frisch verliebten Studenten heraus: Nicht nur deren Geisteszustand ähnelt dem von Menschen mit Zwangsstörungen, also etwa von zwanghaften Vorstellungen gequälten Patienten, die bestimmte Rituale wie Händewaschen ständig wiederholen. Auch der Nervenbotenstoff Serotonin sinkt auf ein krankhaft niedriges Niveau. Romantische Liebe mache Menschen offenbar im klinischen Sinne «verrückt», behauptet Marazziti. Auch Hilgers stellt fest, dass die Erschütterungen, die die Verliebtheit auszulösen imstande ist, und die mit ihr verbundenen Unsicherheiten auch im glücklichsten Fall eine ernsthafte Belastung für das seelische Gleichgewicht darstellen. «Auf und Ab, Zweifel und Nöte und die Versuche, Zeichen und Signale des weitgehend noch unbekannten Gegenübers zu deuten, werfen den Verliebten in eine fast paranoide Verfassung und erfordern ein hohes Maß an Spannungstoleranz.» Die psychoanalytische Erfahrung zeigt, dass Sichverlieben auch als Abwehr gegen drohende Gefühle von Leere oder Sinnlosigkeit dienen kann - nicht zuletzt in einer bestehenden Partnerschaft. In der Krise im mittleren Alter gaukelt es noch einmal ewiges Glück und ewiges Leben vor und kann von der Last anstehender Sinnfragen wenigstens kurzfristig befreien. Im Extrem werden überhaupt keine dauerhaften Partnerschaften eingegangen. Tiefe Empfindungen werden durch das zwanghafte Wiederholen von kurzfristigen Bekanntschaften vermieden. «Im Wesentlichen bleiben die Liebesgefühle selbstbezogen. Die Verliebtheit ist in sich selbst vernarrt, nicht jedoch auf reale Personen bezogen», schreibt der Aachener Psychoanalytiker. Wie es in der Zeitschrift «Geo Wissen» (Hamburg) in einem Beitrag mit dem Titel «Was abgeht, wenn's abgeht» heißt, hat sich zu dem von Schopenhauer definierten Zweck im Gehirn ein Belohnungssystem etabliert, das anfängliches Interesse bis zur Obsession steigert. Das den Verstand ausschaltet und fortan glauben lässt, unter sechs Milliarden Menschen gebe es keinen besseren Partner. «Ein biochemischer Kniff, der Verliebte blind macht gegen alle Gefahren». Das über den Menschen plötzlich hereinbrechende Chaos folgt nach neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen einer planvollen Ordnung: Individuelle Gefühle lassen sich zwar nicht auf einfache Formeln reduzieren, dennoch verbergen sich dahinter biochemische Prozesse, die alle Menschen miteinander teilen. Vor allem anhand von Tierversuchen haben Neurobiologen und Hormonspezialisten eine Reihe von Mitspielern in dem komplexen Geschehen identifiziert. Jedenfalls könnte der Mensch, wenn er permanent verliebt wäre, genau so wenig ein erfülltes Leben führen, wie jemand, der immer betrunken ist, zitiert «Geo Wissen» den Psychiater Thomas Lewis. Hilgers' Buch, das den Untertitel «Psychoanalytische Ausflüge zu Minne und Missklang» hat, ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, erschienen: 143 S., 14,90 Euro, ISBN 3-525-01466-X Bestellen bei TheM
Quelle: dpa - 15.01.2002 |
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